Ist die Integration der islamischen Minderheit in die demokratische Kultur Frankreichs in den vergangenen Jahrzehnten vorangekommen? Die Satirezeitschrift Charlie Hebdo schien das zu glauben, als sie sich Anfang September dazu entschloss, Mohammed-Karikaturen erneut zu veröffentlichen, die 2015 ein islamistisches Attentat mit tödlichen Folgen für zwölf Menschen nach sich gezogen hatten. Anlass war der wegen dieses Anschlags vor kurzem begonnene Prozess.
Schon am 25. September kam es zu einem Gewaltakt: In Unkenntnis dessen, dass Charlie Hebdo die Adresse gewechselt hat, verletzten zwei Männer pakistanischer Herkunft vor dem früheren Gebäude des Magazins zwei Mitarbeiter eines jetzt dort residierenden Radiosenders schwer. Sie konnten gefasst werden. Am 16. Oktober dann tötete ein 18-jähriger Jugendlicher den im Pariser Vorort Conflans-Sainte-Honorine arbeitenden Lehrer Samuel Paty, der in einer Unterrichtsstunde über Meinungsfreiheit die Karikaturen gezeigt hatte. Die tschetschenische Familie des Attentäters kam vor zwölf Jahren nach Frankreich und hatte politisches Asyl erhalten. Der Täter wurde von der Polizei erschossen. Zu fragen bleibt, weshalb die Sicherheitsdienste mittels ihrer elektronischen Möglichkeiten nicht das digitale Vorspiel der Tat bemerken konnten, zu der radikalisierte Imame inspiriert hatten.
Die Meinungsfreiheit gehört zu den höchsten Gütern demokratischer Gesellschaften, sie muss als solche verteidigt und selbstverständlich auch in Schulen behandelt werden. Doch hat sie zuletzt Einschränkungen erfahren. Mittlerweile müssen soziale Medien und Internetplattformen Hassbotschaften aus dem Netz entfernen und in schweren Fällen anzeigen. Die Ausmaße der Grauzone, in der Hass-Speech beginnt, sind umstritten, besonders dann, wenn es um die Freiheit der Kunst geht. Zweifellos schlucken die allermeisten in Europa lebenden Muslime eventuellen Ärger über Mohammed-Karikaturen hinunter, ohne an Vergeltung zu denken. Und doch war es nur eine Frage der Zeit, dass sich unter dem Vorwand der Beleidigung des Islam wieder einmal islamistischer Terror in Szene setzte.
Die nobelste Form von Satire und Witz ist stets die scharfe Polemik gegen die Herrschenden gewesen. Heute gehen Politiker, die dem ausgesetzt sind, klugerweise zumeist mit Nonchalance darüber hinweg. Oder sie prozessieren, wie der türkische Präsident Erdoğan, als er mit einer Ziege namens Chantal in Verbindung gebracht wurde. Anders steht es mit Witzen und Parodien über Minderheiten, die häufig Geschmackssache sind, aber unter Umständen gefährliche Auswirkungen zeitigen können. Dies ist besonders dann der Fall, wenn diese Minderheiten nicht vollends integriert sind. Hier wird das Risikopotenzial multikultureller Gesellschaften sichtbar, denen gegenüber sich eine hegemoniale Kultur – nicht zuletzt im eigenen Interesse – sehr verantwortungsbewusst zeigen sollte.
Nicht nur in Frankreich werden Schüler ihre Lehrer befragen, wie es zu einem derart entsetzlichen Anschlag wie dem auf Samuel Paty kommen konnte. In der Haut dieser Erzieher möchte man nicht stecken, zumal es zweifelhaft ist, ob sie auf einen Konflikt dieser Brisanz ausreichend vorbereitet wurden. In ihren Klassen befinden sich meist auch Muslime, denen sie eine möglichst akzeptable Botschaft vermitteln müssen. Gerade ihnen sollten sie eine Teilnahme an der Diskussion nicht freistellen, wie es Samuel Paty aus vermeintlicher Vorsicht getan hat.