In mehreren europäischen Ländern ist die Impfpflicht derzeit ein grosses Thema. So müssen sich in Frankreich alle impfen lassen, die im Spital oder im Altersheim mit Patientinnen und Patienten arbeiten. Und auch in Griechenland gilt das für die Beschäftigten im Gesundheitswesen. In der Schweiz hat die Nationale Ethikkommission (NEK) schon im Februar von einem Impf-Obligatorium abgeraten. Wieso sie an ihrer Haltung festhält, erklärt Kommissionspräsidentin Andrea Büchler.
Andrea Büchler
Präsidentin Nationale Ethikkommission
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Andrea Büchler ist Professorin für Privatrecht und Rechtsvergleichung an der Universität Zürich. Sie ist Präsidentin der Nationalen Ethikkommission.
SRF News: Gelten die Erwägungen der Ethikkommission zur Impfpflicht vom Februar immer noch uneingeschränkt?
Andrea Büchler: Bislang hatte die Nationale Ethikkommission keinen Anlass, ihre Stellungnahme zu revidieren. Eine allgemeine Impfpflicht kommt aus rechtlichen und ethischen Gründen sowieso nicht infrage. Zur Impfpflicht für besondere Personengruppen haben uns wir sehr differenziert geäussert – und unsere Erwägungen gelten auch heute noch.
Welche ethischen Argumente sprechen gegen eine Impfpflicht?
Tatsache ist, dass das Pflegepersonal Kontakt mit Patientinnen und Patienten hat. Deshalb könnte man möglicherweise von einer berufsethischen Pflicht sprechen, sich impfen zu lassen – damit man andere nicht gefährdet. Andererseits geht es um das Grundrecht der persönlichen Freiheit.
Die Impfung hat mit der körperlichen Integrität zu tun: Jeder Eingriff braucht hier eine freiwillige Zustimmung der betroffenen Person. Das ist bei einem Impfobligatorium nicht gegeben. Das ist das Problem.
Gilt die persönliche Freiheit also absolut?
Eingriffe in die persönliche Freiheit dürfen nur erfolgen, wenn sie verhältnismässig sind. Die entscheidende Frage ist dabei, ob es zur Einschränkung der persönlichen Freiheit keine Alternative gibt. In der Covid-Impffrage gibt es diese aber durchaus: Man kann impfunwillige Personen des Gesundheitspersonals anders einsetzen – ohne direkten Kontakt mit Patientinnen und Patienten. Oder man kann von ihnen regelmässige Covid-Tests verlangen. Diese Alternativen gewährleisten den Schutz der Patienten gleichermassen wie eine Impfung.
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Die Überlegungen der NEK zur Covid-Impfung Die Überlegungen der NEK zur Covid-Impfung
Der Europäische Menschenrechts-Gerichtshof urteilte im April, dass eine Impfpflicht möglicherweise auch in einer Demokratie gerechtfertigt sein kann. Sind Sie in der Frage zurückhaltender?
Rein rechtlich würde es das Epidemiengesetz in der Schweiz ermöglichen, für gewisse Personengruppen «bei erheblicher Gefahr» und als «Ultima Ratio» eine Impfpflicht zu verhängen. Doch auch wenn es diese gesetzliche Grundlage gibt, müsste geprüft werden, ob das Obligatorium verhältnismässig wäre.
Es kann – und dabei stehen wir im Einklang mit dem Europäischen Menschenrechts-Gerichtshof – durchaus Situationen geben, die ein Impfobligatorium rechtfertigen würde. Im Moment aber sind wir der Meinung, dass es nicht das Richtige wäre – und dass eine Impfpflicht fürs Gesundheitspersonal nicht das richtige Signal wäre und möglicherweise sogar kontraproduktiv sein könnte.
Welche Folgen befürchten Sie?
Der Beruf könnte an Attraktivität verlieren, oder die Impfpflicht könnte vom Gesundheitspersonal als Zeichen des Misstrauens gedeutet werden. In einer Zeit, in der es derart viel geleistet hat, wäre das völlig fehl am Platz. Es braucht im Gegenteil mehr Wertschätzung für die Arbeit des Pflegepersonals.
Das Gespräch führte Katharina Bochsler.