In Afghanistan verschlechtert sich die Sicherheitslage seit der Machtübernahme der Taliban stetig. Die britische und die kanadische Regierung haben bekannt gegeben, dass sie je 20'000 Flüchtlinge aufnehmen wollen. Die Schweiz ist zurückhaltender. Trotz grossem Druck gewährt der Bundesrat bis anhin lediglich rund 230 Menschen ein humanitäres Visum. Warum macht die Schweiz nicht mehr? Mario Gattiker, Direktor des Staatssekretariats für Migration (SEM), nimmt Stellung.
Mario Gattiker
Staatssekretär für Migration
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Der vierfache Familienvater ist 1956 in Zürich geboren und studierte Rechtswissenschaften. 2001 übernahm er die Leitung des Sekretariats der Eidg. Ausländerkommission und wurde Chef der neuen Sektion Integration im Bundesamt für Ausländerfragen. Seit Anfang 2015 ist Gattiker Staatssekretär des für Migration.
SRF News: Geht der Bund davon aus, dass die 230 Menschen mit humanitärem Visum noch in die Schweiz gelangen können?
Mario Gattiker: Das hat für uns natürlich Priorität. Diese 230 Menschen sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Schweiz, die in Afghanistan leben, sowie ihre Familienangehörigen. Da tragen wir eine grosse Verantwortung und diese Leute können sich darauf verlassen, dass wir alles dafür tun, dass sie das Land verlassen können.
Heute hat das Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) auf Twitter mitgeteilt, dass der Schweizer Evakuierungsflug verschoben werden musste. Wissen Sie dazu mehr?
Dieser Flug nach Taschkent zur Rückführung von Schweizer Staatsangehörigen wurde aus Sicherheitsgründen verschoben. Das zeigt, wie schwierig es derzeit ist, aus Afghanistan herauszukommen – selbst für ausländische Staatsbürgerinnen und -bürger.
Die Sicherheitslage ist prekär auf dem Weg zum Flughafen Kabul, weil es viele Checkpoints der Taliban gibt. Da die Situation so angespannt ist, sind Forderungen nach grösseren Aufnahmeaktionen von Flüchtlingen nun völlig unrealistisch und nicht sachgerecht.
Können Sie abschätzen, wann der Schweizer Evakuierungsflug nach Taschkent fliegen kann?
Wir beobachten die Lage in Afghanistan eng und werden, wie das EDA kommuniziert hat, diese Personen mit humanitärem Visum bei der erstbesten Gelegenheit ausser Landes bringen.
Sie sagen, die Forderung, mehr Afghaninnen und Afghanen aufzunehmen, sei nicht haltbar. Das wird scharf kritisiert, Amnesty International etwa spricht von einer «unhaltbaren Position des Bundesrates».
Ich glaube, es äussern sich nun viele Personen, die die Lage schlicht verkennen. Eine Ausreise ist derzeit nicht möglich und der Weg zum Flughafen ist für Menschen, die tatsächlich politisch verfolgt werden, hochgefährlich. Im Moment muss man vor Ort helfen und auf die unmittelbar dringendsten humanitären Bedürfnisse der Schutzbedürftigen reagieren.
Trotzdem hat der Bundesrat am Mittwoch auf die Möglichkeit des humanitären Visums hingewiesen.
Die Schweiz hat in Afghanistan keine Vertretung mehr und uns fehlt somit die Logistik vor Ort, um solche Visa auszustellen. Es ist denkbar, dass solche humanitären Visa in den Nachbarstaaten geltend gemacht werden können, wie wir das auch in der Syrien-Krise gesehen haben. Aber Menschen aus Afghanistan in die Schweiz zu holen, ist logistisch derzeit praktisch unmöglich.
Eine Forderung ist, dass die Schweiz wie schon im Syrien-Konflikt die Hürden für diese humanitären Visa herabsetzen soll, damit mehr Leute von Unterstützung profitieren können. Ist das eine Option?
Wir werden die Lage laufend beobachten und allfällige weitere Massnahmen treffen. Während der Syrien-Krise konnte eine kleine syrische Community durch Visa-Erleichterungen Verwandte in die Schweiz holen. Wenn man das heute für Afghanistan machen würde, hätten wir zehntausende Menschen dieser stark gewachsenen Community in der Schweiz. Das wäre logistisch nicht zu bewältigen. Und ich glaube, es wäre auch nicht die richtige Antwort, da viele dieser Leute bereits als Flüchtlinge in Pakistan oder im Iran leben.
Das heisst, die Schweiz senkt die Anforderungen an Visa nicht, weil sonst zu viele Afghanen herkommen würden?
Nein, es geht darum, dass es sinnvoll ist, die besonders gefährdeten Personen zuerst zu schützen. Nicht einfach alle Verwandten, da nicht alle der 30 bis 40 Millionen Afghaninnen und Afghanen gleichermassen gefährdet sind. Die Staatengemeinschaft muss bei der Schutzgewährung auf die Gefährdung der Menschen achten, sonst entstehen Ungerechtigkeiten.
Eine andere Möglichkeit wäre, dass die betroffenen Menschen ein solches Gesuch künftig digital beim SEM einreichen können. Wären Sie dazu bereit?
Das passiert selbstverständlich bereits. Wir können solche Gesuche aber erst behandeln, wenn wir die Leute erreichen und wissen, wo sie sind. Das ist ohne Schweizer Behörden vor Ort aber logistisch kaum machbar.
Das Gespräch führte Oliver Washington.